„Bist Du behindert oder was?“ Behinderung, Ableism und souveräne Bürger_innen

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Jenseits der Geschlechtergrenzen“ der AG Queer Studies und der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte!? Perspektiven der Disability Studies“, Universität Hamburg, 14.12.2011

In den letzten Jahren bin ich beruflich bedingt viel Zug gefahren, und da lernt man ja immer wieder
für’s Leben. Mittlerweile kommen Leute wie ich, die einen Rollstuhl benutzen, ja dank
Barrierefreiheit sogar in Regionalzüge rein – also jene Züge, die früher noch einen unbezwingbar
steilen Einstieg hatten. Mittlerweile sitzt Rollifahrer_in im Regionalexpress im Fahrradabteil, gerne
zwischen Sonntagsauflüglern oder Großfamilien mit Kinderwagen. Neulich fand ich mich in einer
Horde halbwüchsiger grölender Fußballfans wieder, die zu einem Auswärtsspiel von Hannover 96
nach Bremen fuhren. Nach dem der erste Kasten „Herrenhäuser“ auf Ex ausgetrunken, die Bremer
Fans ausgiebig als „stinkend“ gebrandmarkt und die anderen Mitreisenden ohne Rollstuhl entnervt
in die anderen Abteile abgewandert waren, fingen sie an sich selbst zu dissen. „Ey Alter, Du bist
doch total behindert“, „Ey Du Spast“, und so weiter, und so fort. Am Ende der Fahrt beschwerte ich
mich halb im Scherz, dass 1. sie selbst ganz schön stinken würden, 2. sie mal schön aufpassen
sollten, weil Werder Bremen ja nun mal eindeutig das Team mit mehr Klasse sei und 3. sie doch
mal aufhören sollten, sich in meiner Anwesenheit ständig als „behindert“ zu beschimpfen. Einer
von ihnen schaute mich entgeistert-aggressiv an und sagte: „Ja, aber das sagt man jetzt so! Das
hat ja nichts mit Ihnen zu tun!“

Der Tag an dem mein Rollstuhl fortging

Es war stürmisch. Der Herbst wollte sich nicht länger verstecken. Höhnisch rann der Regen in senkrechten Strömen die Scheiben des ICEs herunter. Meine Laune war dementsprechend finster. Gerade hatte ich einen von diesen miesen Filterkaffees erstanden, mit denen die Bahn ihre Kunden für knapp drei Euro zu demütigen pflegt. Schräg gegenüber war so eine Businesstante schlafend mit dem Kopf auf die Zugtischplatte gesunken. Ich stellte mir die Melange ihres zerlaufenen Make-Ups auf der Laptoptastatur vor. Weiterlesen

Mondkalb – Zeitung des Organisierten Gebrechens, #1 2011

Lachen über das Andere. Claudia Gottwald unterzieht den Behindertenwitz einer historischen Analyse

Im Satiremagazin Titanic wird Rattelschnecks arm- und beinloser Comic-Held „Rümpfchen“ im Lampengeschäft vergessen und als besonders verrückte neue Designerkreation bewundert. In der nächsten Folge werden wir ZeugInnen von Rümpfchens erfolglosen Schwimmversuchen im Hallenbad. Darüber lachen gemeinhin nur die ganz hartgesottenen Fans des schwarzen Humors – oder behinderte … . Auch die LeserInnen dieser Zeitung werden zuweilen vielleicht ordentlich geschluckt haben ob der „bösen“ Selbstironisierung unserer Behinderungen. Warum eigentlich? Warum ist es immer noch „tabu“ über Behinderung zu lachen – und zu welchen Zeiten hatte man damit kein Problem? Weiterlesen

Mondkalb – Zeitung für das Organisierte Gebrechen, #1 2011

Mal sehen wohin die Reise geht

„Einen Moment bitte, ich brauche absolute Ruhe“ sagt Reinhard Fißler. Er singt eine kurze Tonfolge ins Mikrofon, dann spricht er etwas hinein. Reinhard Fißler komponiert. Der ehemalige Sänger der Band Stern Combo Meißen arbeitet an einem neuen Song. Morgen will er eine erste Version im Studio aufnehmen, in Meißen, zusammen mit alten Musikerkollegen. „Da werd ich wohl noch bis Mitternacht dran arbeiten, ich muss mir meine Kräfte ein bisschen einteilen“, sagt Fißler. Weiterlesen

Mondkalb – Zeitung für das Organisierte Gebrechen, #1 2011

FAQ – Frequently Asked Questions

Ich hatte dich gar nicht bemerkt. Wie du da am Nebentisch gesessen hast und mich „schon seit Stunden beobachtet“ hattest. So sagtest du jedenfalls, als du an meinen Tisch kamst. Inga, Theo und ich wollten eigentlich gleich gehen. Es war spät geworden, wir waren der letzte Rest der Gruppe, der nach dem Vortrag noch ins Morgenrot gegangen war. Das Morgenrot ist eine linke Kneipe im Prenzlauer Berg. Studis und linke Intellektuelle trinken hier ihr Bier, seit einiger Zeit kommen auch immer mehr Touristen auf der Suche nach einer „authentischen Berliner Szenekneipe“.
Du warst so Anfang oder Mitte Dreißig, dunkle Haare, Geheimratsecken. Ob du mich mal etwas Persönliches fragen dürftest, fragtest du mich. Ich ahnte, worauf das hinauslief. Nach „etwas Persönlichem“ werde ich oft gefragt. Selten will dann jemand wissen, ob wir uns zufällig schon mal getroffen hätten oder wo ich denn meinen coolen Mantel herhabe. Mit dem „Persönlichen“ ist immer das Offensichtliche gemeint: Meine Behinderung. Nur darüber wollen die Leute mehr wissen. Weiterlesen

Mondkalb – Zeitung für das Organisierte Gebrechen, #1 2010

Schwein gehabt. Als „Risikopatientin“ unterwegs mit H1N1

Die Maske schloss Nase und Mund gut ab. Darunter war es zu warm. Das Atmen unter der Maske fiel mir schwer, es roch nach Kunststoff. Sehen konnte ich aber noch ganz gut. Zum Beispiel den leicht verängstigten Gesichtsausdruck der Krankenhaussekretärin, die mir die Maske gerade in die Hand gedrückt hatte, begleitet von der Aufforderung, sie sofort anzulegen. Erst danach fragte sie mich nach meinem Namen und meiner Adresse. Verständlich, schließlich hätte ich ihr über die Atemluft meine H1N1-Viren übertragen können. Weiterlesen

Mondkalb – Zeitung des Organisierten Gebrechens, #1 2010

Was nicht passt wird passend gemacht. Über das „Ashley-Treatment“ und die Zurichtung von zu kleinen und zu großen Körpern

Neulich bei Karstadt. Der dritte Stock ist schon eine Herausforderung. Der Knopf mit der Drei drauf ist verdammt weit oben. Also auf den Rolli stellen, den Arm weit ausstrecken. Beim Aussteigen kommt mir ein Kind entgegen, verwirrte Blicke. Fragen werden gestellt: Warum ist die Frau so klein? Ist sie noch Kind oder schon erwachsen? Weiterlesen

Mondkalb – Zeitung für das Organisierte Gebrechen, #1 2007