Ein Stück Freiheit

Eine Willkommenskultur für Abhängigkeit von anderen ließe die Rufe nach aktiver Sterbehilfe leiser werden.

Wenn wir schon alle sterben müssen, dann bitte in Würde. So könnte man den Konsens der Deutschen zum Thema Tod und Sterben zusammenfassen. Was aber genau diese Würde sein soll bleibt nebulös. Manche wollen „nicht an Apparaten hängen“, nicht „vor sich hin vegetieren“, möglicherweise noch „an Schläuchen“. Anderen reicht es auch schon „tagtäglich auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein“, damit es für sie vorbei ist mit dem Leben in Würde. Oder sie finden es würdelos, „nicht mehr alleine Einkaufen gehen zu können“ oder sich gar von anderen Menschen „den Hintern abwischen zu lassen“. So oder ähnlich liest und hört man es alltäglich in den Online-Kommentaren und Talkshows der Republik. Mich lässt diese Vorstellung von Würde immer mit einem Kopfschütteln zurück. Als Rollstuhlfahrerin bin ich immer wieder „auf die Hilfe anderer angewiesen“ und fühle mich deshalb alles andere als entwürdigt. Für andere ein Symbol des Scheiterns, in dem man „landen“ könnte, bedeutet mein Rollstuhl für mich ein Stück Freiheit. Durch ihn komme ich überall hin – fast überall, so lange es Fahrstühle und Rampen gibt. Weiterlesen

Kommentar in der taz, 19.11.2015

Pflegestufe drei und Spaß dabei! Ein kritischer Blick auf den Selbstbestimmungsbegriff der Behindertenbewegung

Im Juli 2013 zog die „Disability and Mad Pride Parade“ durch Berlin-Kreuzberg. „Behindert und verrückt feiern“, „Norm mich nicht voll“ oder „Pflegestufe 3 und Spaß dabei“ konnte man auf den Transparenten lesen. Rund 1.000 bis 1.500 Menschen, sichtbar und unsichtbar von Behinderung und psychiatrischen Diagnosen betroffen, feierten das „Nicht-Normal-Sein“ und erteilten dem rein medizinisch und defizitorientierten Blick auf Körper und Psyche eine radikal-glitzernde Absage: „Stell Dir vor, jemand entscheidet über Deinen Kopf, wo Du wohnst, oder wohin Du alleine gehen darfst. Stell Dir vor, jemand bestimmt, was Du isst, oder wen Du triffst. Unvorstellbar? Für manche von uns leider nicht!“, stand auf den Einladungsplakaten.
Hauptanliegen der Pride-Parade, die auch in der Tradition der emanzipatorischen Krüppel- und Behindertenbewegung steht, ist die Forderung nach einem selbstbestimmten Leben. „Independent Living“, das Kernkonzept der amerikanischen und britischen Behindertenbewegung, entwickelte sich in den frühen 80er Jahren auch in Deutschland zu einer der wichtigsten Leitlinien in der Behindertenpolitik.
Einer der deutschen Aktivisten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, Horst Frehe, fasst dies so zusammen: „Selbstbestimmt leben heißt, Kontrolle über das eigene Leben zu haben, basierend auf der Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen, die die Abhängigkeit von den Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags minimieren. (…) Unabhängigkeit (‚Independence‘) ist ein relatives Konzept, das jeder persönlich für sich bestimmen muß. Weiterlesen

GID – GENethischer Informationsdienst, Zeitschrift des GENethischen Netzwerks, Februar 2014

Lass zucken!

Die Pride Parade »Behindert und verrückt feiern« stellt die gesellschaftliche Norm in Frage und will die Macht der Scham brechen.

Auf der Berliner Urbanstraße wird es am kommenden Sonnabend zu Behinderungen kommen. Mit Blockaden durch glitzernde Rollstühle wird zu rechnen sein. Seltsame Vögel und Verrückte werden Anwohnerinnen und Anwohner irritieren. Ungewohnte Körper werden spastisch zucken zum wummernden Bass des Lautsprecherwagens. Aus Gehhilfen werden Tanzhilfen mit Stil. Weiterlesen

Jungle World # 28, 11. Juli 2013

 

Mittendrin statt nur dabei

Behinderte Menschen haben freie Schulwahl. Sie können wohnen und arbeiten und ihre Freizeit gestalten, wo und wie sie wollen. Denn Inklusion ist ein Menschenrecht. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus.

Alltag in einer normalen Grundschulklasse, irgendwo in Deutschland. Die Schüler hören ihrer Lehrerin zu, einige aufmerksam, ein paar kippeln mit dem Stuhl oder malen etwas gelangweilt in ihrem Heft herum. Neben der Lehrerin sitzt eine Gebärdensprachdolmetscherin, gegenüber einem gehörlosen
Kind in der ersten Reihe. Sie übersetzt den Lehrstoff. In der Pause sprechen die Mitschüler das Kind in Gebärdensprache an: „Kommst du mit aufs Klettergerüst?“ Nach einem solchen „normalen“ Grundschulalltag muss man in Deutschland lange suchen, immer noch. Das ist verwunderlich, denn eigentlich wollen ja alle, dass sie kommt, die Inklusion: Eine Gesellschaft, in der alle willkommen sind – egal ob zum Beispiel behindert oder nichtbehindert, ob Migrant oder Muttersprachler, egal welches Geschlecht, welche Religion oder sexuelle Orientierung jemand hat. Die Vielfalt der Menschen wird anerkannt und wertgeschätzt. Weiterlesen

Diakonie-Magazin #2/2013, S. 14ff & S. 9.

Das echte Leben

Für die Hauptfigur des Hollywoodfilms „The Sessions“ sind Liebe und Sex das Wichtigste. Der echte Mark O’Brien hatte noch viele andere Anliegen.

Mitten im Raum steht sie, die Maschine, die „Eiserne Lunge“. Wuchtig, regelmäßig laut zischend. „Sie ist groß, gelb und hässlich, aber sie funktioniert. Sie hilft mir atmen – ob ich will oder nicht.“ Das riesenhafte Gerät dominiert Mark O’Briens winziges Ein-Zimmer-Appartement im kalifornischen Berkeley. Heraus schaut nur sein Kopf. Das Vakuum, das die Eiserne Lunge alle drei Sekunden in ihrem Innenraum erzeugt, weitet Mark O‘Briens Brustkorb – dadurch saugt er automatisch Atemluft durch die Nase ein. So begegnet man Mark O’Brien als Zuschauer des Films „Breathing Lessons: The Life and Works of Mark O’Brien“

Weiterlesen: MENSCHE_2.13_Marc-O-Brian

Menschen – Magazin der Aktion Mensch, #2/2013

Von der Fürsorge zur Selbstbestimmung. Wie behinderte Menschen in der BRD undankbar wurden

Weil sie den Anblick einer Gruppe behinderter Menschen an ihrem Urlaubsort hatte ertragen müssen, hatte eine Frau gegen ihren Reiseveranstalter geklagt. Mit Erfolg: Das Frankfurter Landgericht sprach ihr im Februar 1980 Schadensersatz zu. Gemeinsam mit den Behinderten den Speisesaal benutzen zu müssen sei unzumutbar, heißt es in der Urteilsbegründung: „Es ist nicht zu verkennen, dass eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann.“ Weiterlesen
Mondkalb – Zeitung des Organisierten Gebrechens, #1 2012

Mal sehen wohin die Reise geht

„Einen Moment bitte, ich brauche absolute Ruhe“ sagt Reinhard Fißler. Er singt eine kurze Tonfolge ins Mikrofon, dann spricht er etwas hinein. Reinhard Fißler komponiert. Der ehemalige Sänger der Band Stern Combo Meißen arbeitet an einem neuen Song. Morgen will er eine erste Version im Studio aufnehmen, in Meißen, zusammen mit alten Musikerkollegen. „Da werd ich wohl noch bis Mitternacht dran arbeiten, ich muss mir meine Kräfte ein bisschen einteilen“, sagt Fißler. Weiterlesen

Mondkalb – Zeitung für das Organisierte Gebrechen, #1 2011

Eine Karte für alles, was Räder hat

Ausgehen, Städte besichtigen, Freunde in Cafés treffen – RollstuhlfahrerInnen müssen das gut vorplanen. Sich zu vergewissern, ob Orte zugänglich sind, ist oft nervenaufreibend und schwierig. Die „Sozialhelden“, eine Berliner Gruppe sozial engagierter junger Menschen, hat für dieses Problem eine einfache Lösung gefunden. Vorausgesetzt, man verfügt über einen Online- Zugang oder noch besser ein Iphone von Apple. Denn die Webseite http://www.wheelmap.org soll eigentlich eine mobile Orientierungshilfe sein: Auf Online- Stadtplänen zeigt Wheelmap Infos über die Rollstuhlzugänglichkeit von Orten, die von den Nutzer- Innen selbst aktualisiert werden können. Einer der Köpfe hinter Wheelmap ist Raúl Krauthausen, Mitgründer des Vereins „Sozialhelden“. Als Rollstuhlfahrer steht er selbst täglich vor dem Problem, in Gebäude, Busse oder Bahnen nicht hineinzukommen. Weiterlesen
Mondkalb – Zeitung des Organisierten Gebrechens, #1 2011

Self-Determination: The Other Side of the Coin. Reflections on a central but ambiguous term of the German Disability Rights Movement

Since its beginning, independent living has been a crucial demand of the German Disability Rights Movement. The call for independent living and the refusal of its opposite, heteronomy, is the focal point of its critique. Disabled people realized that the way in which disabled people are treated in terms of social policy and of personal care is a form of discrimination and not a natural outcome of their „fate“. This insight enabled people with disabilities to claim independent living as a form of liberation. This article sheds light on a critical maxim of the German Disability Rights Movement, its merits and shortcomings, and uses the example of labor and employment as a means for examining its significance.

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Disability Studies Quarterly, Spring 2006, Volume 26, No. 2
Mit Birger Siebert