Reclaim Behinderung! Warum es völlig ok ist, „behindert“ zu sagen.

„Voll behindert, du Spast!“ schallt es vom Schulhof rüber, und ich denke: Meinen die mich? Natürlich nicht. Obwohl ich‘s ja bin. Okay, „Spastiken“ habe ich jetzt nicht, aber „voll behindert“, ja, das bin ich schon. 100 Prozent Schwerbehinderung steht im Ausweis, und man sieht‘s mir auch an, mit allem Pipapo: Kleinwüchsigkeit, Hörgeräte, Rollstuhl. Als ich irgendwann mal einen Jugendlichen fragte, ob seine Kumpels zufällig mich meinen mit „voll behindert, Alter“, sagte der mir völlig entgeistert: „Nein, das sagt man einfach so!“ Schon klar. Weiterlesen

Edition F, Kolumne „Reboot the System“

Pränataldiagnostik: Ich bin ein Risikomensch

Wäre meine Mutter heute mit mir schwanger, sie wäre eine „Risikoschwangere“. Allein schon, weil sie fünfunddreißig war, als ich zur Welt kam. „Risikoschwangerschaft“: Nicht nur mögliche Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt sind damit gemeint. Auch angeborene „Fehlbildungen“: Je älter eine Frau ist, wenn sie ein Kind erwartet, desto wahrscheinlicher. „Muss DAS denn heute noch sein?“ – eine Frage, die sich meine Mutter heute mit mir als Kind auf dem Spielplatz wohl oft anhören müsste. Weiterlesen

Edition F, Kolumne „Reboot the System“
Dieser Text wurde für den Alternativen Medienpreis 2020 in der Kategorie „Zukunft“ nominiert.

Sargau ist Irsee.

Kai Wessels „Nebel im August“ erzählt als erster Spielfilm vom nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm.

Erst werden ihm die Haare geschoren. Dann gibt es ein Porträtfoto für die Akte. Verschmitzt, wütend und glatzköpfig schaut Ernst Lossa, 13 Jahre alt, am Anfang in die Kamera des Films Nebel im August. Er wird eingewiesen in die Kinderfachabteilung der Heil- und Pflegeanstalt Sargau im Allgäu. Diagnose: „asozialer Psychopath“. Der Film von Regisseur Kai Wessel begleitet Lossas Zeit in der Anstalt bis zur Ermordung im Rahmen des Tötungsprogramms der Nationalsozialisten. Rund 300.000 Kinder und Erwachsene brachten Ärzte in der NS-Zeit um, weil sie ihnen zu behindert, zu sehr psychisch auffällig oder zu „asozial“ waren. Weiterlesen

Der Freitag, #10, 2017

Einer vertrage der anderen Last

Erzählmuster: Warum müssen Menschen mit Behinderungen im Kino immer nur sterben wollen?

Mit Ein ganzes halbes Jahr kommt nun ein Film in die Kinos, der eine regelmäßig wiederkehrende Geschichte aktualisiert: Ein querschnittsgelähmter Mensch meint, es sei besser, tot zu sein als behindert, und bringt deshalb andere dazu, ihm beim Selbstmord zu helfen. Basierend auf dem Bestseller von Jojo Moyes (Originaltitel Me before you) sorgt die Romanze zwischen Pflegekraft Louisa Clark und dem querschnittsgelähmten Will Traynor unter Menschen mit Behinderungen für Ärger. Denn der frisch verliebte Millionär Traynor bekommt am Ende seinen Wunsch erfüllt: Sterbehilfe in der Schweiz.

Freitag, #25/16 Weiterlesen

Gespräch: Ein ganzes halbes Jahr – gefühlvolles Drama oder „Disability Death Porn“?

Bestsellerautorin Jojo Moyes war von der Kritik an der Verfilmung ihres Buchs „Ein ganzes halbes Jahr“ angeblich überrascht. Dabei bedient die Story um einen querschnittsgelähmten Millionär, der Erlösung in der Sterbehilfe findet, ein bekanntes Narrativ.


DeutschlandradioKultur, Kompressor, 22.6.2016

Ein Stück Freiheit

Eine Willkommenskultur für Abhängigkeit von anderen ließe die Rufe nach aktiver Sterbehilfe leiser werden.

Wenn wir schon alle sterben müssen, dann bitte in Würde. So könnte man den Konsens der Deutschen zum Thema Tod und Sterben zusammenfassen. Was aber genau diese Würde sein soll bleibt nebulös. Manche wollen „nicht an Apparaten hängen“, nicht „vor sich hin vegetieren“, möglicherweise noch „an Schläuchen“. Anderen reicht es auch schon „tagtäglich auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein“, damit es für sie vorbei ist mit dem Leben in Würde. Oder sie finden es würdelos, „nicht mehr alleine Einkaufen gehen zu können“ oder sich gar von anderen Menschen „den Hintern abwischen zu lassen“. So oder ähnlich liest und hört man es alltäglich in den Online-Kommentaren und Talkshows der Republik. Mich lässt diese Vorstellung von Würde immer mit einem Kopfschütteln zurück. Als Rollstuhlfahrerin bin ich immer wieder „auf die Hilfe anderer angewiesen“ und fühle mich deshalb alles andere als entwürdigt. Für andere ein Symbol des Scheiterns, in dem man „landen“ könnte, bedeutet mein Rollstuhl für mich ein Stück Freiheit. Durch ihn komme ich überall hin – fast überall, so lange es Fahrstühle und Rampen gibt. Weiterlesen

Kommentar in der taz, 19.11.2015

Ableism und das Ideal des autonomen Fähig-Seins in der kapitalistischen Gesellschaft

Abstract: Ableism bezeichnet eine Form der Beurteilung Einzelner hinsichtlich ihrer körperlichen, geistigen und psychischen Fähigkeiten und Funktionen: Personen werden damit auf ihren Körper reduziert und zu Stellvertreter*innen einer vermeintlichen Gruppenidentität. So ist Ableism die treffendere Bezeichnung für etwas, das sonst oft vereinfacht Behindertenfeindlichkeit genannt wird. Das Konzept öffnet den Blick auf die Kontingenz von Körperbewertungen: Was in dem einen Gesellschaftskontext durch Hilfsmittel oder kulturelle Akzeptanz ausgeglichen und ‚normalisiert’ werden kann, bleibt in anderen als Behinderung bestehen. So ist Ableism auch ökonomisch situiert – die Fähigkeiten von Personen und ihre Einbettung in vorhandene Ressourcen entscheiden über die Anerkennung als Subjekt. Umgekehrt erscheint der Verlust der Verwertbarkeit als existentielle Bedrohung für die sich als „fähig“ und autonom verstehende Subjekte. Deren Kampf gegen diese Bedrohung führt zu Abgrenzungsprozessen gegenüber den als behindert Markierten und mündet wiederum in ableistische Diskurse. Der Beitrag diskutiert die Bedeutung dieser Diskurse für die Etablierung von kollektiven sozialen Identitäten und der sozialen Positionierung von Subjekten in den kulturellen und ökonomischen Verhältnissen in der Gegenwartsgesellschaft.

  1. Ein ganz normaler Vortragsabend

Bei der Vortragsveranstaltung im Kulturzentrum war ich die Erste. Klar, ich hatte hier ja vorher auch noch ein bisschen was zu tun. Der Hausmeister war schon da, und er war sehr nett. Er machte mir die Türen zum rollstuhlgerechten Zugang auf, zeigte mir den Fahrstuhl. Nachdem er die Mikrophone aufgestellt und sich noch einmal vergewissert hatte, dass alle Stühle am richtigen Platz stehen, ging er wieder in sein Büro. Vorher sagte er noch zu mir: „Die Referentin kommt dann gleich“. Ein Irrtum – die Referentin war schon da. Denn das war ja ich. Weiterlesen

Zeitschrift für Inklusion – Online, #2, 2015

„Bist Du behindert oder was?“ Behinderung, Ableism und souveräne Bürger_innen

Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Jenseits der Geschlechtergrenzen“ der AG Queer Studies und der Ringvorlesung „Behinderung ohne Behinderte!? Perspektiven der Disability Studies“, Universität Hamburg, 14.12.2011

In den letzten Jahren bin ich beruflich bedingt viel Zug gefahren, und da lernt man ja immer wieder
für’s Leben. Mittlerweile kommen Leute wie ich, die einen Rollstuhl benutzen, ja dank
Barrierefreiheit sogar in Regionalzüge rein – also jene Züge, die früher noch einen unbezwingbar
steilen Einstieg hatten. Mittlerweile sitzt Rollifahrer_in im Regionalexpress im Fahrradabteil, gerne
zwischen Sonntagsauflüglern oder Großfamilien mit Kinderwagen. Neulich fand ich mich in einer
Horde halbwüchsiger grölender Fußballfans wieder, die zu einem Auswärtsspiel von Hannover 96
nach Bremen fuhren. Nach dem der erste Kasten „Herrenhäuser“ auf Ex ausgetrunken, die Bremer
Fans ausgiebig als „stinkend“ gebrandmarkt und die anderen Mitreisenden ohne Rollstuhl entnervt
in die anderen Abteile abgewandert waren, fingen sie an sich selbst zu dissen. „Ey Alter, Du bist
doch total behindert“, „Ey Du Spast“, und so weiter, und so fort. Am Ende der Fahrt beschwerte ich
mich halb im Scherz, dass 1. sie selbst ganz schön stinken würden, 2. sie mal schön aufpassen
sollten, weil Werder Bremen ja nun mal eindeutig das Team mit mehr Klasse sei und 3. sie doch
mal aufhören sollten, sich in meiner Anwesenheit ständig als „behindert“ zu beschimpfen. Einer
von ihnen schaute mich entgeistert-aggressiv an und sagte: „Ja, aber das sagt man jetzt so! Das
hat ja nichts mit Ihnen zu tun!“

Was heißt Ableism? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft

„Wir werden nicht als Behinderte geboren, wir werden zu Behinderten gemacht“ – dieser Slogan der Behindertenbewegung ist einfach, aber wahr. Die Abwandlung des Simone de Beauvoir-Klassikers, mit dem sie die Gesellschaftlichkeit von Geschlecht auf den Punkt brachte, könnte eine simple Erkenntnis sein, und doch scheint sie im Fall von Behinderung auf den ersten Blick verwunderlich: Behinderung sei doch eine manifeste Eigenschaft von Körpern, ein Mangel. Wenn ein Arm oder Bein fehlt, Nervenstränge gelähmt sind, dann ist da nichts gesellschaftlich Gemachtes, und auch das fehlende Augenlicht kann man nicht dekonstruieren, könnte man sagen.Doch der Satz würde nur stimmen, wäre der Mensch bloß Körper und würde es kein Denken und Reden über Körper geben. Zum „Behindert-Sein“ gehört mehr als der körperliche „Defekt“, „Behindert-Sein“ bein- haltet eine kulturelle Tradition von Zuschreibungen, Stereotypen sowie mitleidigen, verachtenden bis hin zu eliminatorischen Praxen. „Behindert-Sein“ beinhaltet auch die Kategorien des bürgerlichen Rechts, das Körper in behindert oder nichtbehindert, Person oder Nicht-Person, Frau oder Mann, deutsch oder nichtdeutsch einteilt. Auch das Konkurrenzverhältnis der Individuen, innerhalb dessen sich Körper in der bürgerlichen Gesellschaft zu bewähren haben, fließt in das Konzept mit ein. Weiterlesen

Arranca! # 43 Bodycheck und linker Haken, Dezember 2010